Mehr Realness bitte
Weil Wirklichkeit wirkt
Wir sind besessen vom Erleben realer Ereignisse – weil wir kaum noch welche haben. Die Digitalisierung frisst gefühlt nicht nur unsere Zeit, sondern verschlingt auch gleich noch unsere erlebbare Welt. Realität konkurriert mit der virtuellen Realität. Shopping, Dating …, alles geht online smarter. Doch alle diese Eindrücke und Informationen aus der digitalen Welt können wir nicht wirklich erfahren, sie berühren uns nicht im Sinn des Wortes. Bilder zeigen geschminkte oder manipulierte Wirklichkeiten. Texte verkünden Fake-News. Reale Erlebnisse werden so zum Garant für wahre und unverfälschte Erlebnisse. Authentizität ist deshalb das Marketing-Hauptwort der Zeit geworden. Auf den Verpackungen wimmelt es aus diesem Grund von Stempeln und Hinweisen, die "das Echte" garantieren sollen. Aufgedruckte Holzoptik soll Wärme, Natürlichkeit und Geschichte durch Gebrauchsspuren vermitteln. Die Schriftauswahl beschränkt sich auf Hand- und Stempelschriften – weil sie so persönlich und handwerklich wirken. Die Abbildung wird mit Photoshop so lange bildbearbeitet, bis ein perfekter authentischer Eindruck entsteht. Auch wenn die Produkte echt, natürlich und handwerklich sind - das Holz ist nur Holzoptik, auf Karton oder Plastik gedruckt. Die Gebrauchsspuren sind inszeniert. Die Schriften werden digital generiert. Das Bild ist nicht mehr als eine Fassade. Der Effekt: die Abnutzung des Echten durch das Falsche.
"Erste - Sahne“- Shooting an einem Sonntag bei Oma. Wirklich gut.
Deshalb mehr Realness, bitte. Keine Scheinauthentizitäten. Wir wollen Lebensmittel ohne künstliche Zutaten, wir sollten auch Bilder ohne Photoshop-Tricks fordern. Bilder, die echtes Essen zeigen, und kei
ne potemkinschen Foodcreationen, die nur für das Foto gebaut wurden und die niemand essen kann. Wenn das Leben die besten Geschichten erzählt, dann sollten wir mit unseren Bildern, Texten und Gestaltungen Geschichten erzählen,die dicht am realen Leben sind.
In der Architektur hat sich der Gedanke schon lange durchgesetzt, das Material für sich sprechen zu lassen. Ehrlich zeigen, was Sache ist. Pappe zeigen und sie nicht mit Holzmustern bedrucken. So bekommen wir wieder Leben in das Packaging Design und nicht „McLeben“.
Das nicht den landläufigen Schönheitsidealen entsprechende Modell Iskra Lawrence postete im letzten Sommer ein Bild von sich im Badeanzug – gut sichtbar: ihre Cellulitis. Sie schrieb dazu: „Das Leben ist so viel
einfacher, wenn man es für sich selbst lebt. Nicht für das Schönheitsideal eines anderen, die Bestätigung eines anderen oder eine sozial konstruierte Perfektion.“ Natürlich zielt auch dieser Beitrag auf Zustimmung – findet sich doch unter dem Post der Hersteller des Badeanzugs. Trotzdem geht es hier um deutlich mehr „Sein“ als „Schein“ in der Kommunikation. Die Beauty- und Modeindustrie zeigt
Amateurmodells ungeschminkt. Wann zeigt die Lebensmittelindustrie ungeschminkte Food-Shoots auf ihren Packungen und verzichtet auf "optische Geschmacksverstärker“? Mehr Mut! Mehr Wirklichkeit wirkt.
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